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Ein Plädoyer für die Langform: Das war die re:publica 2019!
Die jährliche re:publica in Berlin ist mittlerweile schon zu einer Institution geworden. Heuer fand die dreitägige Konferenz rund um das Web 2.0 bereits zum 13. Mal statt, wie auch in den Vorjahren in der STATION Berlin und in Kooperation mit der parallel stattfindenden Media Convention, einem der führenden Medienkongresse in Europa. Außerdem wurde im Rahmen der Jugendmesse Tincon der jungen Generation und ihren Themen mehr Raum und Aufmerksamkeit als je zuvor gewidmet. Insgesamt nahmen rund 20.000 Menschen an der heurigen Veranstaltung zwischen 6. und 8. Mai teil.
Für die Ausführlichkeit, gegen Verkürzung
2019 stand die re:publica unter dem Motto „tl;dr“, der Abkürzung des Internetslangs „too long; didn’t read“, der ausdrückt, dass man einen Text aufgrund seiner Länge schlichtweg ignoriert. Dieses Motto zog sich durch die gesamte Veranstaltung – auch im wahrsten Sinne des Wortes: Von der Decke der riesigen Ausstellungshalle hing Herman Melvilles literarisches Meisterwerk Moby Dick. In voller Länge, ausgedruckt auf 450 Metern Endlospapier in Übergröße.
Die Verkörperung des Mottos „tl;dr“ in Form des Romans Moby Dick
Schon im Vorfeld wurde das Motto auf der Website der Veranstaltung folgendermaßen angekündigt und erklärt:
„Wir werden reden, wir werden debattieren, wir dürfen streiten und mehr denn je werden wir IN DIE TIEFE gehen. Denn die Dinge sind kompliziert. Die Dinge sind komplex. Die Dinge wollen durchdacht, diskutiert und von verschiedenen Seiten betrachtet werden. Darum widmen wir die nächste re:publica der Langform, dem Kleingedruckten, den Fußnoten, der Kraft der Recherche, der Kraft der Kontroverse und der Dringlichkeit, die Themen, die uns spalten (oder vereinen!) NICHT zu vereinfachen.“
Medienpolitik: soziale Medien als Mitverantwortliche für Demokratie
Auch der deutsche Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier begründete in seiner Eröffnungsrede seine eigene mit Selbstironie und Humor gestellte Frage „Was hat eine so analoge Institution wie der Bundespräsident auf einer so digitalen Veranstaltung wie der re:publica zu suchen?“ mit dem diesjährigen Motto der re:publica: Es sei ein Lob des langen Arguments, das Bekenntnis zu Recherche, Differenzierung und Abwägung und damit ein notwendiger Weckruf gegen den Zeitgeist von Grobschlächtigkeit, Verkürzung und Vereinfachung. Nicht nur in der politischen Debattenkultur, nicht nur im Netz, sondern ganz allgemein, denn die Grenzen zwischen der analogen und digitalen Welt würden zunehmend verschwinden. Als drängendste Aufgabe sieht Steinmeier daher nicht die Digitalisierung der Demokratie, sondern die Demokratisierung des Digitalen. Besonders wer mit einer Plattform einen Raum für politischen Diskurs schaffe, trage auch Verantwortung für Demokratie – Facebook, Twitter, YouTube und Co. müssten darum geltendes Recht achten, ihre Verantwortung endlich wahrnehmen und auch in die Tat umsetzen.
Eröffnet wurde die re:publica 2019 vom deutschen Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier.
Transparenz und gebrochenes Schweigen als Lösung im Kampf gegen Hater
Vor allem bei politischer Werbung spricht sich Steinmeier für „glasklare Herkunftssiegel“ aus:
„Wer gezielt und datenmaßgeschneidert politische Botschaften platziert, der muss vom Betreiber und nötigenfalls vom Gesetzgeber dazu gezwungen werden, Gesicht zu zeigen. Wer genau hat mir diese Anzeige geschickt, von wem wurde sie finanziert, welche Anzeigen schaltet diese Person oder Organisation sonst noch? Kurzum: Wessen Spiel spielt mein Gegenüber eigentlich und wie kann ich mich, wenn ich will, diesem Spiel auch entziehen? All das sollten mündige Bürger wissen.“
– Frank-Walter Steinmeier | Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland
Transparenz wäre erwiesenermaßen das am besten geeignete Mittel, Populisten den Wind aus den Segeln zu nehmen. Denn besonders diejenigen, die der Demokratie schaden wollen, wären im Netz oft effektiver aufgestellt als diejenigen, die für sie einstehen, führte der Bundespräsident weiter aus. Die demokratische Mehrheit dürfe sich jedoch nicht vertreiben lassen vom Gebrüll der Wenigen. „Warum lassen wir zu, dass die Hater so laut und die Vernünftigen so leise sind? Dass die Wenigen so stark und die vielen so schwach erscheinen? […] Überlassen wir die politischen Räume im Netz nicht den tobenden Scheinriesen!“
Wie Populisten und Rechtsextreme soziale Medien nutzen – und was wir dagegen tun können
Steinmeiers Eröffnungsrede nahm vieles schon vorweg, was die Besucher der re:publica in den über hundert restlichen Programmpunkten erwartete. Denn neben Themenbereichen wie Podcasting, Nachhaltigkeit, Education und Geschäftsmodellen der Zukunft war der politische Diskurs in den (sozialen) Medien einer der zentralen Schwerpunkte. So hielten die beiden Journalisten Patrick Stegemann und Sören Musyal einen sehr spannenden Vortrag mit dem Titel „The Kids are Alt Right“ darüber, wie die Neue Rechte Influencer schafft und nutzt: Auf ihren YouTube-Kanälen und Instagram-Accounts gäben sich Rechtsextreme zunächst harmlos; sie spielen mit Bildsprache und Inhalten, die sie auf den ersten Blick vom Mainstream nicht unterscheiden würden. Auch Diversifikation der angebotenen Inhalte würde betrieben: Egal ob Kochshow auf YouTube, Parodien auf Musikvideos oder Reiseberichte – hier soll für alle etwas dabei sein. Durch die daraus entstehende emotionale Verbindung mit dem Publikum sowie Vernetzung mit Gleichgesinnten schüfen rechte Influencer laut Musyal und Stegemann mehr Reichweite für ihre Propaganda. Der Erfolg dieser Vorgehensweise mache sie einerseits sehr gefährlich, andererseits wirken sie durch ihre meist übertriebenen Provokationsversuche auch schnell peinlich.
Die beiden Journalisten Patrick Stegemann und Sören Musyal untersuchten zwei Jahre lang die Social Media Accounts von Rechtsextremen.
Einige Lösungsansätze für den Umgang mit Populisten in sozialen Medien gab wiederum Eva Horn, Social Media Redakteurin bei SPIEGEL ONLINE und freie Autorin, in ihrem Vortrag „Wie Populisten uns auf Social Media vor sich hertreiben – und was wir dagegen tun können“. Die Kernaussage: „Stop making stupid people famous! Gebt Idioten keine Plattform!” Die Weiterverbreitung von Provokation solle bestmöglich verhindert werden, denn dadurch würden nur unbewusst Statements reproduziert werden, die man eigentlich ablehnt. Wenn überhaupt, solle man nur Screenshots mit mehr Kontext als Kommentar teilen, nie hingegen die eigentlichen Postings von Populisten und Hatern.
Die Social Media Redakteurin und freie Autorin Eva Horn spricht über Populisten auf Social Media.
Aufräumen im Trollhaus – Hetze und Gegenrede in Kommentarbereichen
Auch Marc Ziegele, Junior-Professor für politische Kommunikation in Düsseldorf, untersuchte gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen von verschiedenen Universitäten in zwei Studien den Umgang mit Trollen und Hetzen, allerdings spezifischer im Rahmen von professionellem Community-Management. Die Ergebnisse dieser Studien stellte er zu Beginn einer Diskussionsrunde mit dem Titel „Aufräumen im Trollhaus: Hetze und Gegenrede in Kommentarbereichen“ vor. Es gäbe vier grundlegende Moderationsstile – Diskutieren, Erziehen, Vergemeinschaften, und Konfrontieren – die sich jeweils positiv oder negativ auf die Aspekte Respekt (in Form von Zivilität und Höflichkeit) und Diskursivität (in Form von Rationalität und Konstruktivität) in Kommentar-Diskussionen auswirken würden. Einen eindeutigen Gewinner gäbe es dabei unter den verschiedenen Stilen allerdings leider nicht.
Junior-Professor Marc Ziegele stellt verschiedene Moderationsstile und deren Auswirkungen in Kommentar-Diskussionen vor.
Das Entstehen von Shitstorms unter der Lupe
Im Anschluss daran diskutierten die Panelteilnehmerinnen und -teilnehmer über ihre eigenen Erfahrungen mit Trollen und Hatern. So sprach die ZDF-Korrespondentin Nicole Diekmann über den Anfang des Jahres durch ihren Tweet „Nazis raus“ ausgelösten Shitstorm. Besonders eskaliert sei die Sache eigentlich erst durch ihre mit einem Augenzwinkern gemeinte Antwort „Jede/r, der/die nicht die Grünen wählt“ auf die Frage, wer in ihren Augen denn ein Nazi sei. Doch, so ihre mittlerweile erlangte Erkenntnis, Sarkasmus und Ironie würden zu 90 % nicht verstanden (aufgrund der im digitalen Raum fehlenden Mimik und Gestik) bzw. würden von den wenigen instrumentalisiert, die sie verstehen, um diejenigen zu aktivieren, die sie nicht verstehen.
Diese Theorie unterstützte der Social Media Analyst Luca Hammer wiederrum in seinem Vortrag „Wut in Zeitlupe – Analyse von Empörungswellen auf Twitter“. Der Wissenschaftler hatte sich den Shitstorm um Nicole Diekmann genauer angesehen und war zu dem Ergebnis gekommen, dass die Eskalation und der große Ansturm auf die Journalistin auf den Post eines einzigen Kritikers mit Screenshot von Nicole Diekmanns Tweet zurückzuführen seien, der sich in weiterer Folge rasant verbreitet hatte.
Der Social Media Analyst Luca Hammer erklärt, dass ein einziger Post ausreichen kann, um einen Shitstorm ins Rollen zu bringen.
Fazit: Zu viele Programmpunkte, zu wenig Zeit!
Alles in allem kann gesagt werden, das Motto tl;dr der re:publica 2019 wurde auf jeden Fall erfüllt: Die Konferenz hielt so viele spannende Themen, Talks, Workshops und Vorträge bereit, dass man ein ganzes Buch damit füllen könnte. Wer sich für die erwähnten oder die vielen nicht erwähnten Programmpunkte interessiert, findet sämtliche Aufzeichnungen auf dem YouTube-Kanal der re:publica. Bis alle durchgesehen sind, ist es sicher schon wieder Zeit für die re:publica 2020.